Lerne „Nein“ zu sagen: Freundschaften als sicheres Übungsfeld

Lerne „Nein“ zu sagen: Freundschaften als sicheres Übungsfeld

Dieser Artikel beleuchtet die Rolle von Freundschaften und romantischen Beziehungen in unserem Leben und wie diese unsere Fähigkeit beeinflussen, authentisch zu sein und unsere Bedürfnisse klar zu kommunizieren. Während Liebesbeziehungen oft eine größere emotionale Intensität und Komplexität mit sich bringen, laden wir dich dazu ein, Freundschaften als ein sicheres Übungsfeld zu nutzen, um dein authentisches Selbst zu stärken und gesunde Grenzen zu setzen.

Wie authentisch bist du in Freundschaften und Beziehungen?

Vielleicht gehörst du zu den Menschen, die sowohl in Beziehungen als auch in Freundschaften authentisch sind – die in den meisten Situationen zu ihren Wünschen, Bedürfnissen und Ärgernissen stehen können. Für dich ist das Setzen von Grenzen kein Problem. Konflikte empfindest du als nicht bedrohlich.

Falls du jedoch merkst, dass du oft den Frieden wahren möchtest und lieber zurücksteckst, besonders in romantischen Beziehungen, weil du fürchtest, diese zu riskieren: Dann könnte dieser Artikel ein spannendes Gedankenexperiment für dich sein.

Was Liebesbeziehungen emotional so intensiv macht

Liebesbeziehungen fühlen sich oft wichtiger an und haben mehr Gewicht in unserem Leben und unserer Lebensgestaltung. Der Verlust erscheint uns gravierender. Neben den Hormonen, die uns im Zustand des Verliebtseins ungeahnte Höhen erleben lassen, gibt es noch andere Faktoren, die Beziehungen so sehr in den Fokus rücken. Faktoren, die erheblichen Druck erzeugen können und Ängste sowie Konfliktpotenzial bergen.

Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, warum sich Liebesbeziehungen oft emotionaler, bedeutsamer und identitätsstiftender anfühlen als Freundschaften:

  1. Gesellschaftliche Erwartungen und Ideale
    Romantische Beziehungen werden oft als höchstes Ziel und als Quelle des Glücks dargestellt. Die Vorstellung, „den einen Menschen für alles zu finden“ und mit ihm glücklich zu sein, erzeugt hohe Erwartungen und Druck – nicht nur von innen, sondern auch durch die Gesellschaft. Die vorherrschende Heteronormativität betrachtet die Mann-Frau-Beziehung und die Familiengründung immer noch als zentrales Lebensziel. Dies bedeutet auch, dass der Partner möglichst „alles sein“ und alle Bedürfnisse erfüllen muss. Dadurch entsteht oft eine stärkere emotionale Abhängigkeit und höhere Erwartungen an den:die Partner:in.
  2. Exklusivität
    Romantische Beziehungen sind in den meisten Fällen exklusiv – wir haben nur „den einen Partner“. Der Verlust dieser Person wirkt oft gravierender als das Auseinanderleben einer Freundschaft. Mit dieser Exklusivität gehen oft Unsicherheit einher, wenn wir das Gefühl haben, sie könnte gefährdet sein.
  3. Körperliche und sexuelle Intimität
    In romantischen Partnerschaften spielt körperliche und sexuelle Intimität eine zentrale Rolle. Dies bringt zusätzliche Herausforderungen mit sich, wie sexuelle Unzufriedenheit oder Missverständnisse über sexuelle Bedürfnisse. Konflikte in der Partnerschaft können sich auf mehreren Ebenen auswirken – Kommunikation, Sexleben und Intimität – und bergen somit ein höheres Risiko, dass unsere Bedürfnisse nicht mehr erfüllt werden.
  4. Langfristige Verpflichtungen
    Romantische Partnerschaften sind oft mit langfristigen Verpflichtungen wie Zusammenleben, Ehe und Familiengründung verbunden. Wir investieren viel, bauen uns ein gemeinsames Leben auf – was wiederum bedeutet, dass wir auch viel zu verlieren haben.

Zusammengefasst: Es wird mehr geteilt, mehr investiert, mehr geplant, mehr gemeinsam aufgebaut. Es gibt mehr zu verlieren. Was macht das mit uns, unserer Authentizität, unseren Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen?

Warum es schwerfällt, in Liebesbeziehungen Bedürfnisse zu kommunizieren und Grenzen zu setzen

Je wichtiger uns etwas ist und je mehr wir es behalten wollen, desto mehr Schwierigkeiten können daraus resultieren. Kannst du in deiner Liebesbeziehung deine Grenzen spüren und hast du den Mut, sie klar anzusprechen? Sagst du beispielsweise „Nein“ zu einem gemeinsamen Urlaub oder äußerst du den Wunsch, heute lieber allein oder mit Freund:innen Zeit zu verbringen? Kannst du offen kommunizieren, was du dir in der Beziehung wünschst?

Die stärkere emotionale Abhängigkeit in Liebesbeziehungen, oft verstärkt durch Exklusivität und gesellschaftliche Erwartungen, kann eine Angst vor Verlust mit sich bringen. Das kann dazu führen, dass wir unsere Bedürfnisse zurückstellen und Konflikte vermeiden, um die Beziehung nicht zu gefährden. Offene Kommunikation wird zur Herausforderung.

Das Ansprechen von Bedürfnissen und das Setzen von Grenzen kann oft unangenehm sein – für beide Seiten. Sowohl als die Person, die etwas anspricht, als auch als diejenige, die es empfängt, können wir uns dabei unwohl fühlen. Wie leicht uns das fällt, hängt stark von unserem eigenen Zustand ab: Wie stehe ich zu mir selbst? Fühle ich mich in der Beziehung sicher? War mein Tag gut, bin ich voller Energie und Selbstbewusstsein? Oder habe ich bereits einige schwierige Tage hinter mir? All diese Faktoren beeinflussen, wie bedrohlich das Setzen von Grenzen für den anderen erscheinen kann.

Grenzen und Bedürfnisse klar zu kommunizieren, erfordert Übung und Vertrauen – Vertrauen in sich selbst, dass das eigene Gefühl oder der Wunsch berechtigt ist, sonst könnte man zögern, es überhaupt anzusprechen. Vertrauen auch in die Stabilität und Konfliktlösungsfähigkeit der Beziehung, um darauf zu vertrauen, dass sie einen offenen Umgang mit Wünschen und Empfindungen zulässt. In romantischen Beziehungen fällt dies oft besonders schwer, weil hier der Einsatz hoch ist. Denn oft trüben unsere Verlustängste unsere Fähigkeit ein, Grenzen und Bedürfnisse bewusst zu spüren – geschweige denn sie zu kommunizieren. 

Wie können wir also üben unsere Bedürfnisse zu kommunizieren und Grenzen zu setzen ohne gleich das Gefühl zu haben, die Beziehung zu gefährden?

Freundschaften als Übungsfeld: So lernst du Bedürfnisse zu kommunizieren und Grenzen zu setzen

Im Gegensatz zu Liebesbeziehungen bieten Freundschaften oft mehr Kapazität dafür, unsere Wünsche zu spüren, da weniger Verlustängste im Spiel sind. Unser Blick ist weniger getrübt durch Befürchtungen und Ängste. Freundschaften sind in der Regel flexibler in Bezug auf emotionale Bindungen: Wir können mehrere platonische Beziehungen gleichzeitig pflegen, während romantische Beziehungen oft exklusiv und monogam sind. Dadurch sind Freundschaften freier von Ängsten und Egos.

In Freundschaften gibt es kein institutionelles Konstrukt wie die Ehe, was uns mehr Möglichkeiten gibt, Rollen und Dynamiken fluide zu gestalten. Da Freundschaften oft durch weniger Erwartungen, fest definierte Rollen und Verlustängste geprägt sind, haben wir hier mehr Kapazität, uns selbst wahrzunehmen und auszuprobieren: „Heute sage ich mal nein.“ oder „Das war für mich nicht in Ordnung, können wir darüber reden?“

Vielleicht möchtest du eine Person aus deinem Freundeskreis einweihen und bewusst üben, Grenzen zu setzen und zu kommunizieren. Schritt für Schritt kannst du so deinen „Muskel“ für klare Kommunikation stärken – erst bei kleinen Anliegen, dann bei relevanteren oder emotionaleren Themen. Wenn du dich damit wohl fühlst, kannst du dies auf weitere Freundschaften übertragen.

Fazit: Wie Freundschaften deine Fähigkeit zur authentischen Kommunikation stärken

Freundschaften können einen sicheren Raum bieten, um Ehrlichkeit, Selbstentdeckung und persönliche Entwicklung zu üben – oft mehr, als es in Liebesbeziehungen der Fall ist. Sie ermöglichen es dir, authentisch und offen zu sein, wenn die Angst vor Verlust geringer ist.

Freundschaften bieten die Chance, dich selbst besser zu verstehen und deine Identität zu entwickeln, ohne den Druck und die Erwartungen, die oft mit romantischen Beziehungen einhergehen. Indem du lernst, deine Wünsche und Grenzen klar und konstruktiv zu kommunizieren, stärkst du nicht nur deine Freundschaften, sondern auch deine Fähigkeit, in romantischen Beziehungen authentisch und selbstbewusst aufzutreten.

Cheers.

Props an „Brust Raus“, die mit ihrem Video „Wenn Freundschaften zu Ende gehen – Ghosting, Streit & Auseinanderleben“ die Inspiration zu diesem Artikel geliefert haben.

Disclaimer: Nicht alle Beziehungsdynamiken lassen eine solche Veränderung durch eine Person ohne Weiteres zu. Die Veränderung kann für die passivere Person verunsichernd sein, da der gewohnte Beziehungspfad verlassen wird. Ihr müsst euch entscheiden, ob ihr dieses Risiko eingehen möchtet, dass euer Gegenüber möglicherweise die sehr angenehme Position in der Beziehung schützen möchte oder sie aus anderen Gründen nicht mittragen kann oder will. Hier hilft es, den Prozess des „Ich möchte authentischer sein und offen meine Wünsche kommunizieren, weil mir unsere Beziehung wichtig ist und ich mir wünsche, dass wir beide mehr Raum bekommen und uns besser kennenlernen“ transparent zu machen. Eventuell hilft es auch, euch zu informieren, euch Tools anzueignen (z. B. GFK) und Unterstützung zu suchen.

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