Tabus überwinden: Sexualität besprechbar machen

Tabus überwinden: Sexualität besprechbar machen

Sexualität

Während wir in unserem Webinar des Monats eher die fortgeschrittene Paarbeziehung in den Blick nehmen, mag ich in diesem Blogartikel “Tabus überwinden: Sexualität besprechbar machen” die Herausforderungen einer noch recht jungen Paarbeziehung in den Fokus rücken. Wie kann es mir perspektivisch gelingen, sexuell zufrieden zu leben? Ich denke dabei an heteronormative monogame Beziehungen. Ich kann mir aber vorstellen, dass andere Beziehungskonstellationen ähnliche Herausforderungen zu überwinden haben. Egal in welcher Beziehungsform du Dich befindest, freue ich mich über Nachrichten oder Kommentare mit Deinen Erfahrungswerten.

Worüber wollen wir reden?

Zwei Menschen finden zueinander, sie sind verliebt, sie kommen sich näher – emotional wie auch körperlich. Zwei Welten, die miteinander in Verbindung gehen. Wie schön – die Literar:innen dieser Welt haben sich dazu in aller Ausführlichkeit seit Jahrhunderten ausgelassen. Nur ist dieses Miteinander-in-Verbindung- treten manchmal gar nicht so leicht. Braucht es doch das eine oder andere Wort um meinem Gegenüber meine Welt und damit verbundenen Gedanken, Bedürfnisse und Wünsche zu erklären.

Gern gehen wir davon aus, dass der/die andere mich schon verstehen wird. Er/Sie muss erahnen, was ich gerade wünsche oder brauche, denn – wir verstehen uns doch blind, nicht wahr? So das Versprechen der romantischen Liebe, bekannt aus Belletristik und Romanverfilmungen. “Welch ein Glück und was für ein Zufall, wenn Menschen genau dieses reibungslose Zueinanderkommen und Beieinanderbleiben auf diese Weise erleben„, höre die Realistin und vielleicht auch Konstruktivistin in mir sagen.

Unsere Welten sind verschieden

In meiner Vorstellung als Systemikerin leben wir Menschen alle auf anderen Planeten und verknüpfen unsere Welten durch Kommunikation (Videotipp).

Werte prägen, wie wir uns in der Welt bewegen – und welche Bedürfnisse wir haben

Mal gelingt diese gut – mal weniger. Manchmal kommt es zu Missverständnissen. Auf unseren „Planeten“ herrschen verschiedene Werte-Systeme, die wir teilweise bisher nicht einmal für uns selbst erschlossen haben. Oder kannst du auf Anhieb sagen, was Deine Grundwerte sind und wie sie die Deine Wahrnehmung, Dein Handeln und Deine Sprache prägen? Intuitiv könnte es gelingen, dass wir bei der Partner:innenwahl auf jemanden treffen, dem wir auch auf der Werte-Ebene recht nahe sind. So richtig erfahren wir dies meist erst mit der Zeit. Meine Hypothese ist, je ähnlicher wir uns auf der Werte-Ebene sind, desto weniger Konflikte treten auf. 

Unsere Bedürfnisse erschließen sich nicht automatisch für unser Gegenüber

Zurück zu unserer noch recht frischen Paarbeziehung. Nehmen wir an, wir sind unsere:m Partner:in bereits ein wenig näher gekommen. Es kommt zur sexuellen Begegnung, zum ersten sexuellen Erleben. Nicht selten lässt man den Sex erst einmal laufen. Schaut, was passiert. Lässt sich auch mal überraschen – positiv bis hin zu einer möglichen Irritation, wenn nicht sogar Ablehnung des Handlungsgeschehens. Und dann? Vielleicht sollte es zu einem Gespräch kommen. Ein Gespräch darüber, was der eine und die andere sexuell möchte, um zu schauen, ob dies vom jeweiligen Gegenüber erfüllt werden kann. Ich höre an dieser Stelle bereits erste Stimmen, die verlauten lassen: “Wie unromantisch, das wird sich schon entwickeln. Ich will doch nicht bereits vor dem richtigen Start in die Beziehung das Drama bereits eröffnen.” 

Erinnerst Du Dich noch an meine Sätze oben, dass wir alle auf verschiedenen Planeten zu Hause sind? Dies gilt für mich auch in Bezug auf unsere Sexualität, unser sexuelles Erleben und unsere sexuellen Bedürfnisse. Es gleicht einem Wunder, wenn wir uns wortlos verstehen, die Bedürfnisse und Vorlieben der sexuellen Erfüllung des/r anderen erahnen und zur deren Erfüllung beitragen können. Ich sage nicht, dass dies nicht möglich ist. Mir erscheint allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass die sexuellen Vorstellungen und Bedürfnisse nicht sofort erahnt werden, als größer. Warum daher nicht zügig versuchen, die Welt des anderen zu erkunden, vielleicht eher durch Sprache als durch Taten, um zu sexueller Zufriedenheit zu gelangen? Und wie schön kann es sein, wenn wir neugierig und offen Fragen stellen, was meinem/r Partner:in gefällt und zudem frei kommunizieren, was mir gefällt und worauf ich Lust habe?

Zudem möchte ich einen weiteren Punkt für Offenheit und Kommunikation an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen: Auf körperlicher und vor allem sexueller Ebene sollte das Einvernehmen Grundlage aller (sexuellen) Handlungen sein, um die Grenzen meines Gegenübers nicht zu überschreiten. Das Commitment einzuholen sollte bereits beim ersten Kuss geschehen und sich im Laufe der Beziehung fortsetzen.

Scham als Schutzfunktion

Über die ureigenen Bedürfnisse zu sprechen, das ist besonders im Hinblick auf Sexualität für viele Menschen schambehaftet. Wir leben in einer Gesellschaft, in der vor allem das Miteinander und die Sicherheit psychologische Grundbedürfnisse sind. Oftmals scheuen sich Menschen, ihre Bedürfnisse auszudrücken – aus Angst vor einem Konflikt oder Ablehnung. Als “nicht normal”, “nicht richtig” zu gelten, z. B. bei wenig sexuellen Erfahrungen oder auch beim Ausdruck von Fetischen und Kinks.

  • Ein Fetisch bezieht sich auf ein Objekt, eine Handlung, die sexuelle Erregung hervorbringt.
  • Kinky” beschreibt im allgemeinen Sprachgebrauch sexuelle Praktiken, Konzepte oder Fantasien, die von der Mehrheit als ungewöhnlich eingestuft werden. Das englische Wort “Kink” bedeutet in etwa so viel wie “Krümmung” oder “Knick”. Die Verwendung ist umgangssprachlich und leitet sich von der Idee eines Knicks in der Sexualität ab, der in Kontrast zu gesellschaftlich akzeptierten Sexualverhalten steht, das bildlich gesprochen eine gerade Linie ist.

Vielleicht freut sich ein/e Partner:in, endlich jemanden gefunden zu haben, der/die mit ihm/ihr eine Paarbeziehung eingehen möchte und hat nun Sorge, dass diese doch nicht so stimmig ist wie erwartet und man sich wieder voneinander verabschieden sollte.  Oder man traut sich nicht sich mitzuteilen, da er/sie Angst hat, verlassen zu werden, weil mich mein Gegenüber ablehnen und mich als – im wahrsten Sinne des Worte – abartig (also abweichend von der Norm) bewerten könnte.

Fragen entstehen – vielleicht gibt es auch einen innerer Dialog, der laut wird: 

Was, wenn mein Gegenüber mit meinen Wünschen und Bedürfnissen nicht einverstanden ist? Darf er oder sie dieses sein? Wie entscheide ich mich dann, bleibe ich oder gehe ich? Bleibe ich und erfülle meine Bedürfnisse über andere Wege? Wird mein Partner:in dann darüber Bescheid wissen? Oder betrüge ich ihn? Was wäre, wenn ich äußerst ehrlich bin und dann in einem Dilemma stecke? Kann ich mir dann nur treu bleiben, wenn ich ihn/sie verlasse? 

Vielleicht braucht es aber auch nur ein wenig Zeit, Aufmerksamkeit und vor allem Mut. Mut, die eigenen Bedürfnisse auszudrücken, um die eigene sexuelle Gesundheit positiv zu beeinflussen. Niemand anderes außer uns selbst kann dafür sorgen, dass es uns gut geht.

Sexuelle Gesundheit

Je nachdem wie Du aufgewachsen und sozialisiert worden bist, kann es für Dich natürlich sein, Deine (sexuellen) Bedürfnisse (an-) zu erkennen und sie zum Ausdruck zu bringen. Jedoch leben wir nicht losgelöst von anderen, sondern in Gemeinschaft. 

Ich mag an dieser Stelle gern die Übersetzung der Definition Sexueller Gesundheit der WHO teilen:

[…] „…ein Zustand des körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität; sie ist nicht nur das Fehlen von Krankheiten, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit erfordert einen positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität und sexuellen Beziehungen sowie die Möglichkeit, lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, die frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt sind. Damit sexuelle Gesundheit erreicht und erhalten werden kann, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen geachtet, geschützt und erfüllt werden.“

WHO, 2006a, abgerufen am 27.01.2024

Darüber spricht man nicht

Oftmals sind es soziale Prägungen, die uns in unserem Verhalten und unserer Kommunikation beeinflussen. Die sogenannte sexuelle Revolution hat erst in den 70er Jahren begonnen, seitdem hat sich viel in Bezug auf Sexualität verändert. Oftmals haben jedoch noch alte Muster und Glaubenssätze Bestand. In unserem Kulturkreis lebt noch unbewusst häufig das Prinzip “darüber spricht man nicht”. Zu merken auch an Themen wie Periode, Benennung von Geschlechtsteilen und die sexuelle Erziehung von Kindern im Elternhaus und Schule. Nur langsam beginnt hier eine Veränderung hin zu weniger Scham und mehr Offenheit. Gerade die Rolle der sexuell aktiven, selbstbewussten Frau ist für viele noch nicht selbstverständlich. Daher mag es auch für die eine oder andere Frau schwierig sein, im Kontakt mit (neuen) Partner:innen zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen.

Deine Bedürfnisse zum Ausdruck bringen

Worauf habe ich Lust?

Hilfreich wäre es hierzu, wenn Du Dir darüber klar bist oder wirst, was du willst. Was sind Deine Grenzen, Bedürfnisse – welche Kompromisse wären okay? Was löst grundsätzlich Erregung und Lust in Dir aus? Die Selbsterkundung, vielleicht auch gerade in Deiner Solo-Sexualität könnte hier wie auch ein achtsamer Umgang mit Deinen Empfindungen ein guter Anfang sein. Von mir als Beraterin/Deine Begleiterin würde hier kein Ratschlag für den einen oder anderen Weg erfolgen, sondern ich würde Dir ein Gespräch anbieten, in dem du Dir Deiner eigenen Werte, Bedürfnisse, Gedanken und Wünsche bewusst wirst. Ich unterstütze Dich in Deiner Selbstwirksamkeit und begleite Dich gern ein Stück Deines Weges der sexuellen Entwicklung. 

Für manche Menschen ist es leichter, im Moment des sexuellen Erlebens über die eigenen Wünsche, Vorstellungen und Ideen zu sprechen, andere trennen dieses lieber vom Akt. Schau, was sich für Dich und Dein Gegenüber gut und passend anfühlt. 

Vielleicht ist es ganz leicht und Dein:e Partner:in sieht es ähnlich wie du. Wenn Dein Gegenüber tatsächlich “Nein” sagt, gebe dir Bedenkzeit. Wonach ist Dir jetzt? Gibt es einen Kompromissbereich, auf den ihr Euch verständigen könnt? Vielleicht hilft auch eine Entscheidung auf Zeit, wenn Deine Wünsche und Bedürfnisse abgelehnt werden: “Ich schaue, ob ich damit klarkomme oder es einen anderen Weg für mich geben wird.” 

Du bist okay – ich bin okay!

Gewiss wäre es wünschenswert, würden wir einander wertfrei sowie offen begegnen und die Bedürfnisse anderer anerkennen. Leider ist dies häufig nicht der Fall und daher – so meine Hypothese – die Angst vor Ablehnung durch den/die (Sexual-) Partner:in groß. Ich wünsche mir, dass wir uns davon frei machen und zu unseren Bedürfnissen stehen. Ganz gleich wie die Reaktion des Gegenübers ausfällt. Vielleicht hilft Dir dazu ein konstruktivistischer Grundgedanke (siehe Video oben): Wir konstruieren alle unsere eigenen Wirklichkeiten mit subjektiven Wahrnehmungen und individuellen Bedürfnissen. Gerade in einer Paarbeziehung ist es umso wichtiger, die Bedürfnisse des/der Partner:in zu achten. Niemand hat das Recht, meine Bedürfnisse als falsch zu werten. Nehmen wir an, ich drücke meinen Wunsch nach dem Ausleben eines bestimmten Fetisch aus. Mein:e Sexualpartner:in kann mir gegenüber zwar äußern, dass er/sie diesen nicht mit mir ausleben möchte. Den Fetisch aber als abnormal und mich damit als ähnliches zu betiteln, stünde ihm/sie nicht zu. Es sei denn, es geht um sexuelle Handlungen, die im strafrechtlichen Bereich einzuordnen wären. Wer entscheidet, welche Wahrnehmung von „richtig“ und „falsch“ die richtige ist?

Deine Welt und Wirklichkeit ist wahr

Für mich gilt dieser Grundsatz immer und unterstützt mich, nach meinen Werten und Motiven zu handeln. Immer in den Grenzen, dass ich dabei anderen Menschen kein Leid zufüge. Niemand hat das Recht, meine Wirklichkeit und damit meine Werte, Wünsche und Bedürfnisse in Frage zu stellen und genau darin möchte ich auch Dich bestärken. Ganz gleich, auf welchem Stand Deiner sexuellen Entwicklung Du Dich befindest.

Die Herausforderung könnte sein, einen Partner:in zu finden, deren/dessen Planet gut zu Deinem passt, ihr gemeinsam Worte findet oder ihr gemeinsam auf Entdeckungsreise geht. Gerade das Erkunden anderer uns aktuell noch eher fremden Welten, kann den eigenen Horizont erweitern oder es entstehen mit der Zeit Überschneidungen, so dass Eure Welten im Verlaufe zueinander finden können. Über das offene Gespräch ist dies oftmals leichter zu erreichen. Sollte es Dir aktuell noch an ein wenig Mut fehlen, zu Deinen Bedürfnissen zu stehen, mag ich an dieser Stelle noch ein Zitat mit Dir teilen: 

„Es sind unsere Fragen, die darüber entscheiden, ob wir ein Ja oder ein Nein zur Antwort bekommen.“

Ernst Ferstl, österreichischer Lehrer und Dichter

Wenn Du gar nicht erst fragst, ob Du etwas erfüllt bekommen könntest, ist es automatisch ein “Nein”. Fragst du, hast du die Chance auf zumindest 50% “ja”. Vielleicht hilft Dir dies, um über Deinen eigenen Schatten zu springen und Deine Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. 

Teile gern mit uns in den Kommentaren Deine Gedanken zum Thema oder schreibe uns eine Nachricht, wenn du Fragen oder Unterstützungsbedarf hast. Vielleicht möchtest du auch mehr zur sexuellen Gesundheit in Deutschland erfahren, dann verlinken wir Dir hier noch eine interessante Website.

Konflikt-Kommunikation
Geschrieben von:

Sandra Brauer

Sandra Brauer ist systemische Beraterin und Stressmanagement-Trainerin. Sie hat Betriebswirtschaftslehre studiert und begleitet Unternehmen und Einzelpersonen in Veränderungsprozessen. Ihre Schwerpunkt sind die Vermittlung digital-sozialer Kompetenzen und der Umgang mit mentalen Belastungen vor allem im Kontext des digitalen Strukturwandels. Sandra Brauer kann für individuelle Coachings, Moderation von Podiumsdiskussionen oder Netzwerkveranstaltungen sowie Impulsvorträgen gebucht werden.

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